Vorbereitungen und Ziele
Idee
Im Sommer 2014 wurde eine neue und interessante Software für Tablet-Computer veröffentlicht: ScratchJr. Diese Software, die auf der schon länger etablierten Scratch-Lernumgebung für ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene basiert, hat 5- bis 7-jährige Kinder als Zielgruppe.
In diesem ersten Tagebucheintrag beschreibe ich Vorbereitungen und Ziele eines Projekts, in dem wir ScratchJr in einer zweiten Grundschulklasse eingesetzt haben. Wer lieber direkt den Bericht der ersten Unterrichtsstunde lesen will, wird im zweiten Tagebucheintrag fündig.
Ich bin Hochschullehrer für Angewandte Informatik. Ich bin überzeugt davon, dass man mit der Entwicklung von Planungs- und Probemlösefertigkeiten nicht früh genug anfangen kann - am besten in der frühen Kindheit. Informatik als Wissenschaft, die auf planende und problemlösende Weise Systeme entwirft, die unser aller Leben in allen Gesellschaftsbereichen verändert haben, spielt in den Hitlisten der Studienwünsche eine Nebenrolle - vor allem in den Hitlisten der Studienanfängerinnen. Vermutlich wäre das anders, wenn mehr Informatik in Schulen stattfinden würde. Auf der Suche nach Möglichkeiten, wie schon Grundschulkinder erfahren können, wie Computer funktionieren und was man mit diesen außer Spielen, Videos-Gucken, Twittern und E-Mail-Schreiben noch anstellen kann, stolperte ich über ScratchJr. Erklärtes Ziel dabei war nicht so sehr, den Kindern das Programmieren beizubringen. Ich wollte zunächst, dass der Computer als ein weiteres Ausdrucksmittel unter vielen genutzt wird. Mit Schere, Papier und Klebstoff kann man basteln, mit Stift und Papier schreiben und malen, mit Zahlen und arithmetischen Operatoren kann man die prognostizierte Reichweite des Taschengeldes ausdrücken, mit Schlägel, Becken und Triangel macht man Musik, und mit Computern … ist man nicht zur Passivität verdammt. Man kann mit Computern Glückwunschkarten entwerfen, Geschichten erzählen, Animationen “programmieren”, etc. Nicht zuletzt müssen Kinder lernen, Probleme zu lösen, bevor aus einer Idee eine wirkliche ScratchJr-Geschichte wird, die man mit anderen teilen kann. Grundlegene Problemlösungsfähigkeiten wie die Zerlegung in handhabbare Teilprobleme und das Ordnen der zur Lösung führenden Schritte können hierbei trainiert werden.
Ein über mein privates Umfeld kontaktierter Grundschullehrer war schnell begeistert von der Idee, ScratchJr gleich mehreren Kindern der Schule näher zu bringen. So entstand die Idee, einen Teil des Schulunterrichts für die regelmäßige Arbeit mit ScratchJr im Klassenverband einer 2. Grundschulklassezu reservieren.
Dieses Tagebuch
Alle in diesem Tagebuch beschriebenen Ideen, Programme, Abläufe, Arbeitsblätter, Unterlagen, Bilder, Videos und Reflektionen stammen sowohl vom Lehrer (Benjamin Wanous) als auch von mir (Robert Garmann). Meist ist keine eindeutige Urheberschaft auszumachen, weil vieles in häufigen Gesprächen schrittweise von uns beiden weiter entwickelt wurde. Auch wenn ich dieses Tagebuch schreibe, gebührt etwaige Anerkennung mindestens zur Hälfte meinem Projektpartner Benjamin Wanous. Sollte etwas falsch oder unpassend dargestellt sein, zeichne selbstverständlich ich dafür verantwortlich.
C4C-Ziele
Das Projekt ist nicht einfach ein Programmierkurs, sondern es ist geplant, Aspekte aus den verschiedenen Fächern Sachunterricht, Kunst, Musik, Deutsch und Mathematik zu kleineren Projekten zu verbinden. Die im Grunde realitätsfremde Zerteilung verschiedener Phänomene durch isolierte Unterrichtsfächer soll zumindest innerhalb dieses Pilot-Projektes wieder zu einer ganzheitlichen, fächerübergreifenden Betrachtungsweise verschmelzen. Dabei sollen auch inklusive und integrative sowie interkulturelle Aspekte Berücksichtigung finden. Als einen Anwendungsbereich haben wir uns vorgenommen, alltägliche Verkehrssituationen, wie sie die Kinder auf ihrem Schulweg meistern müssen, von der ScratchJr-Katze erzählen und durchleben zu lassen.
Wir wollen kreative Elemente in das Projekt bringen. Wie beim musikalischen „Scratchen“ können bei ScratchJr Programmideen und Versatzstücke einfach ausgetauscht und wiederverwendet werden. Anfänger werden motiviert, Geräusche, Zeichnungen, Musik und Fotos in ihre digitalen Geschichten einzubauen. Portable Tablet-Computer gestatten es, Lernorte variabel zu wählen – die Schülerinnen und Schüler sind nicht gezwungen, den Schulvormittag an ihren Plätzen zu verbleiben.
Informatik fristet in vielen Schulen ein Schattendasein. Die Schulen, in denen Computerräume existieren, konzentrieren ihr Lernangebot neben der Verwendung von Lernprogrammen für verschiedenste Themen häufig ausschließlich auf die Anwendung von Computern, d. h. auf die Entwicklung von Mediennutzungskompetenz. Grundlagen der Fachwissenschaft Informatik wie Algorithmisierung, strukturierte Zerlegung und Formalisierung bleiben außen vor. Letztere werden angesichts der fortschreitenden Digitalisierung fast aller Lebensbereiche jedoch immer wichtiger, um Schülerinnen und Schüler zu einer kritischen und distanzierten Beurteilung digitaler Technologien und Medien zu befähigen.
Ein häufiger Einwand gegen Informatik für Kinder ist, dass Kinder sowieso schon zu viel Zeit mit der Spielkonsole und dem Smartphone verbringen und dass die Computerprogrammierung viel zu speziell ist, als dass sich alle Kinder damit befassen sollten. Eine Analogie zum Vereinssport drängt sich auf. Wir lassen unsere Kinder ja auch nicht deswegen Sport im Verein betreiben, weil wir sie für einen Beruf als Profisportler vorbereiten wollen. Beim Sport erlernen die Kinder nebenbei und fast unbemerkt wichtige Kompetenzen wie Teamgeist, sportliche Fairness und Ausdauer. Entsprechend sollten wir Kindern ermöglichen zu programmieren, auch wenn sie später keinen Informatik-Beruf ergreifen werden. Geschichten mit ScratchJr zu entwickeln fördert nebenbei und fast unbemerkt die Problemlöse-Kompetenz der Kinder, welche eine Schlüsselfunktion bei der Aneignung von Wissen und Zusammenhängen verschiedenster Anwendungsdomänen spielt.
Die vielfältigen Ziele und geförderten Kompetenzen in diesem Projekt führten übrigens zu dem Projekttitel “C4C - code for competence”. Die Ziele wurden gemeinsam von mir, dem beteiligten Grundschullehrer und einer Projektstelle in der Hochschule zur MINT-Förderung entwickelt und abgestimmt.
Lehrplan
Auf der ScratchJr-Webseite ist ein Lehrplan “Animated Genres Classroom Curriculum for Grades K-2” verfügbar, der von den ScratchJr-Machern ausgearbeitet und erprobt wurde. Dieser Lehrplan wurde von uns ins Deutsche übersetzt und soll die Grundlage für unser Pilotprojekt sein. Der Originallehrplan umfasst 12 Einheiten zu je 60 Minuten. Da wir in Deutschland in einem 45-Minuten-Raster unterrichten, werden wir den Lehrplan allein schon deswegen anpassen müssen. Der vorhandene Lehrplan gibt uns eine gewisse Sicherheit, dass Kinder der Zielgruppe mit den von uns gestellten Aufgaben nicht grundsätzlich unter- oder überfordert sein werden. Wir werden jedoch auch deutlich von dem Lehrplan abweichen, um der etwas umfassenderen Zielsetzung unseres Projekts gerecht zu werden.
Auf der ScratchJr-Webseite gibt es noch mehr nützliches Material, u. a. ein Dokument, in dem jeder ScratchJr-Baustein als eine große Grafik enthalten ist (zum Ausdrucken und an die Tafel hängen). Auch dieses Dokument haben wir ins Deutsche übersetzt.
Technik und Finanzierung
ScratchJr ist eine frei verfügbare Software für iPad und Android Tablets. Wir setzen für unser kleines Projekt die folgenden Geräte ein:
- 19 Schülertablets: Samsung Galaxy Tab A 9.7 Wifi
- 1 Lehrertablet: Samsung Galaxy Tab Pro 10.1 Wifi
- 2x Anker PowerPort 10 (60W 10-Port USB Ladegerät)
- 20 Tablet-Schutzhüllen
Der Preis für diese Hardware betrug insgesamt knapp unter 5000 EUR. Auf den Schülertablets läuft ein Android 5 (Lollipop), auf dem Lehrertablet (noch) ein Android 4.4 (KitKat). Prinzipiell läuft ScratchJr aber auch auf einigen älteren Android-Versionen.
Die 19 gewählten Schüler-Tablets lassen sich nicht ohne weiteres an einen Beamer anschließen, waren aber günstiger als das etwas performantere und beamerfähige Lehrertablet. Es wäre jedoch wünschenswert, Schülertablets an einen Beamer anschließen zu können, um von Kindern erarbeitete Ergebnisse der ganzen Klasse zeigen zu können. Die Lösung besteht bei uns im Einsatz der frei verfügbaren Software mobizen. Mobizen wird auf dem sowieso im Klassenraum verfügbaren Computer installiert und auf jedem Tablet. Durch Herstellen einer USB-Kabelverbindung kann der Bildschirminhalt des Tablets auf den Bildschirm des stationären Computers übertragen und auf den Beamer gegeben werden. Die Tablets müssen dazu in den Entwicklermodus geschaltet werden und USB-Debugging muss aktiviert werden. Ein Vorgang, der für jedes Tablet nur eine Minute dauert und nur einmal durchgeführt werden muss. Statt einer USB-Verbindung könnte man sogar Wifi-Verbindungen vom stationären PC zu jedem Schülertablet herstellen. Davon machen wir keinen Gebrauch, weil in unserem Setting kein Wifi-Accesspoint existiert.
Um Lehrerdemonstrationen an der Tafel durchführen zu können, haben wir auf dem stationären Rechner in der Klasse ScratchJr als App im Google-Browser Chrome installiert. Hierzu verwenden wir ARC Welder für Google Chrome. Die Installation war ein bisschen knifflig - man musste hier und da etwas am Chrome-Browser “verbiegen”. Die Nutzung von ScratchJr auf dem Desktop in Chrome ist aber auch nur deswegen bei uns nötig, weil das Lehrertablet direkt bei Projektstart mit einem Defekt ausgefallen ist und weil wir nicht genügend Mittel für ein die Reklamationszeit überbrückendes Ersatztablet zur Verfügung hatten.
Der stationäre Rechner ist bei uns mit einem digitalen Whiteboard verbunden, so dass ScratchJr bei uns sogar direkt an der Tafel bedient werden kann. Wenn kein digitales Whiteboard vorhanden wäre, würde es ein ganz normaler Beamer auch tun.
Die Finanzierung von Tablets im o. g. Umfang war für die Schule aus eigenen Mitteln nicht möglich. Die Suche nach potentiellen Stiftern und Förderern war nicht schwierig. Insbesondere die MINT-Projektstelle der Hochschule konnte hier sehr gut unterstützen und wir hofften, recht schnell Geld auftreiben zu können. Ein Antrag mit den Zielen des Projekts, welches wir wie oben beschrieben bewusst breit anlegen wollen, war geschrieben, Stiftungen kontaktiert. Ein kurzes youtube-Video und ein noch kürzeres für besonders Eilige wurde produziert, um die Ziele und Möglichkeiten der Verwendung von ScratchJr zu illustrieren:
Aber dann … kam (fast) nichts mehr. Bisher konnten wir keine nennenswerten Erfolge bei der Suche nach Stiftern bzw. Förderern dieses Projekts verzeichnen. Vielleicht ist unser Projekt nicht technisch genug für Stiftungen, die sich die Förderung der MINT-Disziplinen auf die Fahnen geschrieben haben, und es ist nicht integrativ genug, für Förderer benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Die Suche nach Förderern ist “work in progress”. Zwischenzeitlich mussten wir uns jedoch nach einer anderen Möglichkeit umsehen.
Wir planten daher für unser Projekt die Nutzung des Computerraums der Schule, der ja sowieso und “gratis” zur Verfügung stand. Wie oben beschrieben, kann man ScratchJr mit einigen Klimmzügen auch auf Desktop-PCs im Chrome-Browser verwenden. Wir waren uns nicht sicher, ob die Maus und Tastatur, die bei dieser Variante als Eingabegeräte genutzt werden müssen, den Zugang für die Kinder zu sehr erschweren würde. Aber einen Versuch wollten wir wagen. Nur: zu diesem Versuch kam es nicht. Just zum geplanten Projektbeginn wurde in der Schule die zentrale Installations- und Verteilplattform iServ ausgerollt. Diese war nicht flexibel genug, um mit den oben skizzierten Verbiegungen des Chrome-Browsers zu harmonieren. Vielleicht hätte man es mit erhöhtem Einsatz und der (sicher nicht kostenlosen) Unterstützung des iServ-Dienstleisters hinbekommen, aber wir ließen dann schließlich von dem Plan ab, den Computerraum mit stationären PCs zu nutzen. Vor allem deshalb, weil sich unerwartet eine bessere Möglichkeit bot.
Als Professor für Angewandte Informatik zählt Technologietransfer zu meinen Aufgaben. Informatik in Schulen zu bringen, in denen Informatik zur Zeit nicht stattfindet, zählt dazu. Ein Förder- und Investitionstopf der Hochschule machte es möglich, für dieses Pilotprojekt die Mittel bereit zustellen, die notwendig waren, um die oben beschrieben Hardware zu beschaffen. In diesem Pilotprojekt setzen wir Tablet-Computer ein, die sowohl in der Hochschule für studentische Projekte als auch für das hier beschriebene Grundschulprojekt eingesetzt werden. Sinnvoller und umfassender kann man m. E. von Steuergeldern bezahlte Investitionen in Computerausstattung kaum nutzen.
Vorbereitungen
Die Tablet-Computer wurden während der Herbstferien beschafft und von mir konfiguriert. 20 Tablets konnte ich innerhalb von ca. 4 Stunden vorbereiten. Die Tablets mussten in diesem Verfahren zunächst ihre sowieso anstehende Software-Aktualisierung auf die neueste Android-Version durchlaufen (was die meiste Zeit kostete). Dann musste ich ScratchJr und mobizen installieren und konfigurieren. Über Nacht habe ich alle Tablets voll geladen (durch die Ladeverteiler reicht dafür eine normal abgesicherte Steckdose und ein “Dreifachstecker”) und danach in Tablet-Schutzhüllen gepackt. Die Tablets erhielten Nummern, damit jedes Kind von Woche zu Woche immer wieder “sein” Tablet mit dem Arbeitsstand der Vorwoche bekommen kann.
Wir planten bei der ersten Durchführung dieses Projekts zwei Betreuungspersonen im Klassenraum ein. Einfach deswegen, weil wir die erwarteten Schwierigkeiten so besser auffangen wollten, als wenn nur eine Betreuungsperson anwesend wäre. Langfristiges Ziel ist jedoch, eine Lernsituation zu gestalten, die durch eine einzige Betreuungsperson für eine Klasse von ca. 24 Schülerinnen und Schülern beherrschbar ist.
Ich selbst werde die zweite Betreuungsperson sein. Ich habe ein reiches Informatik-Hintergrundwissen, aber keine Erfahrung in Grundschulpädagogik (ich weiß nicht einmal, ob das das richtige Wort dafür ist). Die Vorbereitung der einzelnen Stunden obliegt dem Lehrer. Ich unterstütze bei technischen Fragen und bin Helfer im Klassenraum. Vor jeder Stunde planen wir, uns kurz telefonisch über die Gestaltung der geplanten nächsten Stunde abzustimmen, damit ich auf dem Laufenden bin.
Rechtlich bzw. vertraglich wurden noch zwei Steine aus dem Weg geräumt: ich erhielt eine Berechtigung und einen Auftrag, die Aufsichtspflicht in den betreffenden Schulstunden wahrzunehmen, und unterschrieb, dass ich evtl. erlittene Schäden nicht geltend machen kann. Die Schulleitung unterschrieb einen Leihvertrag für die Geräte und verpflichtete sich darin zu einem sorgsamen und zweckgebundenen Umgang mit den Geräten.
Es geht los
Die erste C4C-Stunde kann nun kommen. Aber das ist Thema eines neuen Tagebucheintrages.